Wehr Dich!

 

Eines Tages war Silke einfach klar gewesen: „Mit mir nicht mehr! Ich lasse mir das keinen Tag länger gefallen!“ Zu der Zeit war sie fast 18 gewesen, hatte ihr Leben lang viel Gewalt erfahren müssen. Sowohl ihr Vater als auch ihr älterer Bruder Emilio hielten es für normal und legitim, Frauen zu verprügeln. Ihre Mutter hatte sie schon früh verloren und, das war ihr erst sehr spät bewusst geworden, sie kannte noch nicht einmal ihre genaue Todesursache. Hinter vorgehaltener Hand hatte sie munkeln hören, dass es Selbstmord gewesen war. Eine Schande für eine High-Society-Familie wie die ihre! Der Vater war ein angesehener Mann in der Wirtschaft, zudem politisch aktiv, bekannt in der Stadt, im Landkreis. Ihr Bruder war in erster Linie seines reichen Vaters Sohn, der nicht viel mehr tat, als in schicken Klamotten mit seinem teuren Geländewagen die Gegend unsicher zu machen. Das Haus der Familie konnte man mit Fug und Recht als Palast bezeichnen. Silke als Tochter hatte jedoch nie viel gezählt, war bestenfalls ein willkommenes Opfer der männlichen Gewalt in der Familie gewesen. Lange war sie davon überzeugt gewesen, dass beinahe tägliche Prügel normal waren, einfach zum Leben gehörten und sie keinerlei Recht hatte, sie dagegen aufzulehnen. Doch je älter sie wurde, umso klaren wurde ihr auch, dass dies keineswegs der Fall war, ja, dass es sogar Gesetze gegen derartige heimische Gewalttätigkeiten gab. Und Stück für Stück hatte sich der Widerstand in ihr geregt. Angefangen hatte es damit, dass ihr ein Buch über Kampfsport in die Hände fiel. Silke fing also an, im stillen Kämmerlein nach Lehrbuch Schlag- und Tritttechniken zu trainieren. Zudem machte sie – in Ermanglung von Hanteln – mit jedem schweren Gegenstand, der auch nur annähernd handlich war, Krafttraining. Ebenso steigerte sie ihre Kondition, indem sie, so oft es ihr möglich war, schnell und weit rannte. Kein bequemes Joggen, sondern wirklich laufen mit ganzer Kraft. Meisten kombinierte sie alles zusammen; rannte bis hinaus in den Wald, attackierte dort die Bäume mit Schlägen und Tritten, stemmte jeden schweren Stein, der an ihrem Weg lag. Befriedigt registrierte Silke, dass sie immer besser wurde. In letzter Zeit wurde sie sowohl von ihrem Vater als auch von Emilio weitgehend in Ruhe gelassen. Lag es daran, dass ihr Vater wegen seiner politischen Kampagne viel unterwegs war? Daran, dass sie inzwischen kein Kind mehr war, sondern eine junge Frau? Merkten die Männer, welche Veränderung nach und nach mit Silke vorgegangen war und trauten sich deshalb nicht mehr so recht an sie heran? Was Emilio betraf, da war die Ursache eindeutig. Seit seiner Hochzeit hatte er ein anderes Opfer, an dem er seine Aggressionen austoben konnte. Nur zu gut erinnerte sich Silke daran, was für eine strahlend schöne und glückliche Braut ihre Schwägerin Kerstin am Tag der Trauung gewesen war. Und wie schnell war dieser glückstrahlende Gesichtsausdruck einem panisch-gehetztem Blick gewichen, nachdem sie nur zu bald heraus gefunden hatte, wie sich ihr Mann den Ehealltag vorstellte. Kerstin war zu sehr zum braven, kleinen Mädchen erzogen worden, als dass sie auch nur die leiseste Chance gehabt hätte, sich allein aus ihrem Martyrium zu befreien. Auch wegen ihr lohnte es sich, weiter zu kämpfen.

 

Völlig unerwartet erhielt Silke Unterstützung in ihrem einsamen Kampf. Wie so oft war sie in den Wald hinaus gerannt. Hier fühlte sie sich so wohl wie sonst nirgends. Hier war sie allein, niemand trat ihr zu nahe. Sie konnte ungestört trainieren oder einfach ihren Gedanken nachhängen. Heute war nasskaltes, diesiges Wetter, was Silke jedoch nicht von ihrem Trainingsprogramm abhielt. Mit wilden Kampfschreien tobte sie sich an den Bäumen und Büschen aus bis sie vor Erschöpfung kaum noch Luft bekam. Plötzlicher Applaus und eine Stimme ließen sie herum fahren. Wie aus dem Nichts war ein Mann hinter ihr aufgetaucht.

„Alle Achtung! In der Rinde der armen Bäume, auf die Sie da eben losgegangen sind, möchte ich wirklich nicht stecken. Aber wie sieht es aus, wenn Ihnen ein Gegner gegenüber steht, der nicht so brav still stehen bleibt?“

„Wollen Sie das wirklich heraus finden?“, fragte Silke in angriffslustigem Tonfall zurück. Kritisch musterte sie ihren Gegenüber. Vom Körperbau her schmächtig aber drahtig und nur wenig größer als sie. Das Alter war schwer zu schätzen; nicht mehr ganz jung, aber auch noch kein alter Mann. Die Haare standen wild in alle Richtungen vom Kopf ab und ihre natürliche Farbe ließ sich nicht ermitteln. Eine Mischung aus Strähnen in Pechschwarz und Wasserstoffblond. Dunkle Augen mit unbestimmbaren Ausdruck und eine blasse Haut, die darauf schließen ließ, dass er sich nicht allzu oft an der frischen Luft aufhielt. Er ging auf Silkes Kampfansage ein.

„Ganz schön gefährlich für so’n kleines Prinzesschen, sich mutterseelenallein im Wald herum zu treiben. Stellen Sie sich nur mal vor, ich wäre kein harmloser Spaziergänger sondern ein gemeingefährlicher Massenmörder, der Ihnen ans Leben will. Was machen Sie dann?“

Er wartete gar keine Antwort ab, ging gleich zum Angriff über. Silke konterte mit allem, was sie hatte, bis sie irgendwann fest in seinem Griff war.

„Gar nicht mal so schlecht“, lobte er. „Aber bedaure, Ihnen sagen zu müssen: Sie sind tot!“

„Revanche!“, keuchte Silke mit zusammen gebissenen Zähnen.

Wieder begannen sie mit einem gleichzeitig spielerischen und doch verbissenen Zweikampf mit dem selben Ergebnis.

„Sehr gut! Und trotzdem, Sie sind schon wieder tot!“

„Was erwarten Sie denn? Alles, was ich kann, hab ich mir nach Lehrbuch selbst beigebracht. Ich hatte nie einen Trainer oder einen Sparringspartner.“

Dafür sind Sie wirklich gut! Und wenn Sie wollen, kann ich Ihnen zu gezieltem Training verhelfen. Kommt ganz darauf an, wie mutig Sie wirklich sind.“

„Sagen Sie mir einfach, wann, wo und wie das mit dem Training laufen soll.“

„Treffen wir uns doch heute Abend im „Alten Schatzschiff“. Sagen wir, um 20°° Uhr. Allein daran, ob Sie dort tatsächlich auftauchen, sehen ich ja, wie ernst es Ihnen ist.“

„Ich werde da sein! Verlassen Sie sich drauf!“

„Na dann, man sieht sich!“ Weg war er!

 

Das „Alte Schatzschiff“, sich dorthin zu wagen war allerdings eine Herausforderung für ein Mädchen. Es handelte sich um eine berüchtigte Hafenkneipe, um die selbst die Ordnungshüter lieber einen großen Bogen machten. Dort trafen sich die härtesten der harten Burschen, mit denen sich keiner anlegte, der bei klarem Verstand war. Selbstverständlich kannte auch Silke diese Kneipe nur vom Hörensagen. Als wohlerzogenen Tochter aus gutem Hause hatte sie sich ganz einfach nicht in der Hafengegend an solchen Orten herum zu treiben. Langsam machte sich Silke auf den Heimweg. Zu dumm, sie kannte nicht mal den Namen ihrer Zufallsbekanntschaft. Nach wem sollte sie also fragen, falls er wider Erwarten nicht im „Alten Schatzschiff“ auftauchen würde? Ungeduldig wartete sie darauf, dass es Zeit zum Aufbruch war. Im unentdeckt von zu Hause wegschleichen hatte sie immerhin schon Übung. Mulmig war ihr schon zumute, aber da war das große Ziel, endlich richtig kämpfen zu lernen. Sowohl Silkes Angstempfinden als auch ihre Schmerzempfindlichkeit waren ihr Leben lang abgestumpft worden. Was konnte ihr dort schon schlimmeres passieren als zu Hause? So sicher und zielstrebig wie möglich ging sie durch immer dunklere Gassen, vorbei an stillgelegten Industriekomplexen und abrissreifen Häusern bis sie am Kai angelangt war. Träge platschten Wellen brackig riechenden Wassers an die Kaimauer. Dieser Teil des Hafens wurde schon lange nicht mehr genutzt seit weiter oben an der Flussmündung ein hochmoderner Industriehafen gebaut worden war. Silke schien der einzige Mensch hier zu sein. Unsicher über die Richtung, die sie einschlagen musste, schaute sie sich um. Aus der Ferne waren Stimmen zu hören und Fetzen von Musik und jetzt sah Silke auch den Lichtschein. Das musste es sein!

Das „Alte Schatzschiff“ macht seinem Namen alle Ehre, handelte es sich doch tatsächlich um einen alten Segelschoner, der hier seit ewigen Zeiten vor Anker lag und irgendwann einmal zur Kneipe umgebaut worden war. Über das Fallreep ging Silke auf das Schiff, betrat die eigentliche Kneipe. Der Laden war gerammelt voll. Hier jemanden zu finden dürfte nicht einfach sein. Silke versuchte sich durch die Menschen zu drängeln auf der Suche nach ihrer Verabredung vom Wald. Pfiffe und zotig-anzügliche Ausrufe folgten ihr. Am Tresen entdeckte sie ihn zu ihrer grenzenlosen Erleichterung. Er grinste übers ganze Gesicht, als er Silke bemerkte. „Donnerwetter! Du traust dich wirklich was!“ Ganz automatisch ging er vom vorher so förmlich Sie zum Du über. Silke konterte: „Was hast du denn erwartet?“

„Und was sagen Mami und Papi dazu, dass sich ihr Töchterchen in so einer verrufenen Gegend mit einem wildfremden Kerl trifft?“

Heftig erwiderte Silke: „Meine Mutter ist schon lange tot und mein Vater der Hauptgrund, warum ich hier bin!“

Beschwichtigend hob er die Hände: „Sorry, sorry! Da bin ich wohl gewaltig ins Fettnäpfchen getreten. Was möchtest du trinken?“

„Was hast du denn da?“

Er hob sein Glas, meinte: „Bestimmt nicht das Richtige für kleine Mädchen. Kannst gern mal dran nippen, bezweifle aber stark, dass du das Zeug runter kriegst.“

Silke probierte trotzdem, begann aber umgehend zu husten, schüttelte sich angewidert.

„Bäh! Was ist das denn für’n Rattengift?“

Er wollte sich ausschütten vor Lachen. „Geheimrezept des Hauses und nichts für ungeübte Kehlen. Ich denke, ein ganz normales Bier ist eher was für dich?“

Er bestellte für Silke, sie tranken sich zu. „Mir ist vorhin aufgefallen, dass ich noch nicht mal weiß, wie du heißt.“

„Johnny und du?“

„Silke. Und wie war das jetzt mit dem Training?“

„Wenn du uns eben noch so viel Zeit gönnst, dass wir in Ruhe austrinken können, dann zeige ich es dir. Was mich allerdings wirklich interessiert ist, warum du so versessen darauf bist, um jeden Preis kämpfen zu lernen. Auf mich machst du eher den Eindruck des wohlbehüteten Töchterchens.“

„Tsss, wohlbehütet! Kommt drauf an, was man sich darunter vorstellt. Hast du ne Ahnung davon, was sich in den besseren Familien hinter verschlossenen Türen abspielt? Worüber man in der Gesellschaft natürlich nicht spricht? Ich hab es einfach satt, mich wehrlos verprügeln zu lassen, weil mein Vater das für angemessen hält und mein lieber Bruder auch. Ich bin nicht länger das Opfer! Ich nicht!“ Ihre Stimme war so laut geworden, dass einige schon zu ihr rüber schauten. Johnny war ganz offensichtlich betroffen. „Dazu fällt mir wirklich nichts mehr ein! Du musst ganz schön verzweifelt sein.“

„Verzweifelt war ich früher. Jetzt bin ich nur noch entschlossen. Wild entschlossen!“

„Okay, dann lass uns gehen.“

 

Sie folgte ihm zu einer alten Fabrikhalle, die von außen so aussah, als würde sie bald zusammen fallen. Im Inneren jedoch befand sich eine Art Sportstudio für all diejenigen, die in den besseren Clubs sicher niemand aufnehmen würde. Ein echter Hinterhofclub für die Ausgestoßenen der Gesellschaft. Ähnliches Publikum wie im „Alten Schatzschiff“ auch. Das Erste, was Silke zur Begrüßung hörte, war brüllendes Gelächter und Ausrufe wie: „Johnny! Alter! Wo hast du denn das Zuckerpüppchen aufgelesen?“

„Hey! Ist die Kleine unser Appetithäppchen für zwischendurch?“

„Die Braut will wohl mal wissen, was echt harte Kerle sind?“

Johnny gebot seinen Kumpels zu schweigen: „Ihr werdet das Mädel in Ruhe lassen! Sie gehört zu mir! Ist das klar? Und sie ist hier um kämpfen zu lernen.“

Wieder brüllendes Gelächter. „Uhhh, nicht dass die Prinzessin sich dabei die Fingernägel abbricht“, und ähnliche Bemerkungen mehr. Silke geriet gehörig in Rage, konnte nicht länger an sich halten: „Wenn ihr glaubt, ich hab nichts drauf, bloß, weil ich ein Mädchen bin, dann kommt doch her und findet raus, ob ich Angst davor hab, mir die Nägel abzubrechen.“

„Ganz schön große Klappe für so ne halbe Portion. Wollen mal sehen, wie mutig du bist, wenn’s ernst wird. Micky, komm mal rüber, die Puppe dürfte so ungefähr deine Gewichtsklasse sein!“

Kurz darauf sah Silke sich einem pickeligen Jungen etwa in ihrem Alter gegenüber, der offensichtlich ihre Herausforderung annehmen wollte. Johnny raunte ihr zu: „Der ist nicht allzu gefährlich, hat auch mehr Mundwerk als was dahinter. Kennt allerdings einige fiese Tricks. Also sei bloß nicht zimperlich, der hält was aus.“

Jetzt kam es drauf an, die Bewährungsprobe gewissermaßen. Kampfbereit mit erhobenen Fäusten umrundeten sich Silke und Micky. Überraschend griff er an, aber nicht überraschend genug. Silke schaffte es, abzublocken, Mickys Angriff ging ins Leere. So lief das Spiel weiter. Silke legte es hauptsächlich darauf an, seinen Angriffen auszuweichen statt selbst zuzuschlagen. Seine Erfolglosigkeit schien Micky allerdings erst recht wütend zu machen. Er griff immer unkoordinierter an, rannte öfters mitten in Silkes abwehrenden Fußtritt. Seine Unbeherrschtheit war Silkes Vorteil, da sie selbst kühl und überlegt agierte, es schließlich fertig brachte, seinen Arm blitzschnell so zu packen und zu verdrehen, dass sie ihn zu Boden zwang. Ihn noch immer fest im Griff haltend fragte sie provozierend in die Runde: „Und, wer ist jetzt hier die zimperliche Zuckerpuppe?“

Jetzt waren die Zurufe anerkennend. „Wow, die hat es ja echt drauf. Sieht man ihr gar nicht an. Anscheinend passt sie doch in unsere Truppe.“

 

Von diesem Moment an war es beschlossene Sache, Silke gehörte dazu. Jeden Abend schlich sie sich jetzt von zu Hause weg zu ihrem Training. Hart ging es dort zu, hammerhart, aber das schreckte Silke nicht. Vor blauen Flecken hatte sie schon längst keine Angst mehr. Und hier lernte sie nun endlich und richtig sich ihrer Haut zu wehren mit Vollkörperkontakt, was die Situation um so realistischer machte. Mit Johnny zusammen trainierte sie noch andere Dinge. Abrissreife Häuser gab es hier genug. Und in diesen Häusern übte sie systematisch, Türen und Fenster einzutreten, just for fun.

„Was willst du machen, wenn du einfach in deinem Zimmer eingeschlossen wirst? Wenn man dich gefügig machen will, indem man dich aushungert?“, hatte Johnny gefragt. „Hat doch was für sich, wenn du auch ohne Schlüssel dann da raus kommst.“

Silke fühlte sich jedes Mal fast high, so unendlich viel Adrenalin pulste durch ihre Adern. Johnny war ihr verlässlicher Partner. Nie zuvor hatte sie einen wirklichen Freund oder eine Freundin gehabt, auch wenn Johnny zu behaupten pflegte: „Typen wie ich haben keine Freunde“, empfand Silke das ganz anders. Oft ging sie nach dem Training noch mit in seine schäbige, kleine Bude. Zu Intimitäten kam es jedoch nicht zwischen ihnen. Noch nicht.

 

Dann war er da, der Tag der Entscheidung. Lange hatte Silke den Entschluss, zu Hause auszuziehen, hinausgezögert. Ohne Geld, ohne Job, ohne ein Dach über dem Kopf war das Leben alles andere als einfach. Das Dach über dem Kopf bot sich ihr jetzt, weil Johnny sich einverstanden erklärt hatte, dass sie bei ihm einzog. Bezüglich eines Jobs hatte Johnny ebenfalls vermittelt. „Wenn du dir das zutraust, im „Schatzschiff“ suchen sie eine Thekenkraft. Die Gäste dort dürften dich ja nicht abschrecken.“

Heute würde sie ihre Sachen packen und sich endgültig von ihrer gewalttätigen Familie verabschieden. Fast war sie enttäuscht, dass offensichtlich niemand ihre Anwesenheit zu Hause bemerkte. Ihr Vater war sicher wie so oft unterwegs. Und Emilio? Damit konnte sie sich später befassen. Zunächst stopfte sie alle Sachen, die sie unbedingt mitnehmen wollte, in den Seesack, den Johnny ihr zur Verfügung gestellt hatte. Passte eine Menge rein in das Teil. Allzu viele Dinge, an denen ihr Herz hing, besaß Silke ohnehin nicht. Ihre Garderobe war auch eher spärlich, da sie sich, im Gegensatz zu Emilio, nie viel aus teurer Kleidung gemacht hatte. Einfach und praktisch war ihre Devise. Dennoch wurde der Seesack brechend voll, sie hatte fast schon Schwierigkeiten, ihn zu schleppen. Mühsam wuchtete sie ihr Gepäck die Treppe herunter, ließ es neben der Garderobe fallen. Dort hing Emilios schwarze Lederjacke, sein Lieblingsstück. Und in der Jackentaschen befanden sich seine Autoschlüssel. Silkes Blick verweilte auf der Jacke, ein breites Grinsen stahl sich in ihr Gesicht. Warum eigentlich nicht? Hatte sie sich nicht nach jahrelangem Martyrium eine kleine Entschädigung verdient? Entschlossen schlüpfte sie in Emilios Jacke, tastete nach den Autoschlüsseln in der Tasche. Der würde Augen machen! Jacke weg, Auto weg! Die Vorstellung war köstlich. Dennoch empfand Silke, dass ihr Abschied noch eine dramatischere Note verdiente. Schließlich hatte sie nicht umsonst so hart trainiert. Sie schlenderte langsam durchs Haus, fand sich schließlich vor der Tür zu Emilios Räumlichkeiten wieder. Oh ja, er war eindeutig zu Hause! Und auch die Geräusche, die Silke durch die geschlossene Tür hörte, waren mehr als eindeutig. Kerstin hatte mal wieder unter ihrem Mann zu leiden. Die Gelegenheit, sich angemessen zu verabschieden. Ihr Training würde sich jetzt in jeder Hinsicht bezahlt machen. Entschlossen nahm Silke Anlauf. Ihr Tritt traf die Tür wie ein Rammbock, so hart, dass diese aus dem Rahmen krachte und ins Zimmer fiel. Emilio wirbelte erschrocken herum, sah seine Schwester provozierend lässig am Türrahmen lehnen und – das durfte doch nicht wahr sein – sie wagte es, seine Jacke anzuziehen!

„Was zum Teufel ist in dich gefahren?“, brüllte er los. „Hast du den Verstand verloren? Du brauchst wohl auch mal wieder ne Tracht Prügel?“

Aufreizend überlegen erwiderte Silke: „Fragt sich, wer hier gleich Prügel bezieht.“

„Du... du verflixtes Biest du!“ Emilio war dumm genug, sich auf Silke stürzen zu wollen. Ein kurzer, harter Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Er stürzte rückwärts zu Boden, begriff gar nicht, was mit ihm geschah. Silke hämische Stimme drang an sein Ohr.

„Bin gespannt, wie dir dein hübschen Gesicht mit 2 Veilchen und aufgeplatzten Lippen gefällt. Was ist das für ein Gefühl, selbst am Boden zu liegen, unterlegen zu sein, hm?“ Er machte Anstalten, sich wieder aufzurappeln, bekam dafür einen brutalen Tritt in die Rippen.

„Ich rate dir in deinem eigenen Interesse, besser liegen zu bleiben!“ Stöhnen ließ er sich zurück sinken. Silke wandte ihre Aufmerksamkeit Kerstin zu, die sich ängstlich in eine Ecke gekauert hatte. Ihr die Hand hinhalten sagte sie: „Steh auf und komm mit.“

Kerstin zitterte am ganzen Körper. „Was ist los mit dir? Ich kenn dich gar nicht wieder. Du warst immer so unauffällig im Hintergrund. Und jetzt trittst du hier auf wie eine Rachegöttin.“

Silke grinste zufrieden. „Gute Show, was? Ich schätze, Emilio hat seine Lektion gelernt. Was ist, kommst du jetzt?“

„Wohin?“

„Na, weg hier! Raus! Ab in die Freiheit!“

Kerstin stand noch immer reglos, starrte Silke an; ungläubig, zögernd, ängstlich.

„Was ist jetzt?“, fragte Silke ungeduldig. „Das ist deine Chance dem hier zu entkommen. Oder ziehst du es vor, dich weiterhin jeden Tag prügeln zu lassen?“ Ihr Blick fiel auf die braune Wildlederjacke, Emilio zweitliebstes Stück, welche über einer Stuhllehne hing. „Hier, die zeihst du über.“

„Aber... ich kann doch nicht Emilios Sachen mitnehmen!“

„Na und! Betrachte es als Entschädigung.“

Langsam wie im Trance folgte Kerstin ihrer Schwägerin. Silke griff sich im vorübergehen ihren Seesack. Mit der Funkfernbedienung öffnete sie Emilios Geländewagen, warf den Seesack auf die Ladefläche. „Los, steig schon ein!“

Wieder zögerte Kerstin. „Das kannst du doch nicht machen! Es ist nun mal Emilios Auto.“

„Und du bist mit ihm verheiratet. Was seins ist, ist auch deins. Und ich borge es mir einfach auf unbestimmte Zeit aus.“ Langsam gingen ihr Kerstin Bedenken auf die Nerven. „Also entweder kommst du jetzt, oder du kannst wieder reingehen. Aber noch mal komme ich bestimmt nicht vorbei und pauke dich da raus.“

 

 

Endlich stieg Kerstin ein. Silke saß längst auf dem Fahrersitz, ließ jetzt den Motor an.

„Hast du überhaupt einen Führerschein?“, meldete Kerstin erneut Bedenken an.

„Noch nicht. Aber fahren kann ich und im Moment ist mir das total egal. Falls man uns anhalten sollte, fällt mir schon was ein. Aber darüber denke ich nach, wenn es aktuell wird.“

Kerstin sagte nichts mehr. Silke merkte jedoch deutlich, wie angespannt sie war. Sie fuhr zügig und doch unauffällig, wie sie hoffte. Das war auch so eine Sache, die Silke immer geärgert hatte. Emilio, der bekam seinen Führerschein natürlich sofort als er 18 wurde und ein tolles Auto dazu. Bei ihr hatte das niemand für nötig befunden und über eigenes Geld verfügte sie nun mal nicht. Das würde sich ziemlich bald ändern. Seit einer Woche arbeitete sie jetzt im „Alten Schatzschiff“ und neben ihrem Anteil an den Lebenshaltungskosten würde sie so bald wie möglich ihren Führerschein finanzieren. Dass sie trotzdem fahren konnte verdankte sie einer ihrer Mitschülerinnen, die sie mit ihrem Auto hatte üben lassen als Gegenleistung für Nachhilfestunden. Sie verließen die besseren Stadtviertel, näherten sich der Hafengegend.

„Wo fährst du überhaupt hin?“, wollte Kerstin wissen.

„Wirst du schon sehen. Gleich sind wir da.“ Nach einigen hundert Metern dann bemerkte Silke: „So, da wären wir. Das Auto fahre ich besser nach hinten auf den Hof. Muss ja nicht so offensichtlich am Straßenrand stehen.“

Wenig begeistert musterte Kerstin die hässliche, alte Mietskaserne. „Und hier wohnst du?“, fragte sie skeptisch.

„Ich weiß, sieht nicht so nobel aus wie unsere Familienhütte. Dafür hast du hier deine Ruhe. Komm doch erst mal mit rein.“ Drinnen fuhr sie fort: „Eigentlich ist es Johnnys Wohnung, aber er gewährt mir gewissermaßen Asyl. Ich denke, es ist okay, dass ich dich mitgebracht habe.“

„Und wer ist Johnny?“

„Ein guter Freund von mir. Jetzt ist er allerdings auf Arbeit. Johnny hilft im Hafen beim Löschen der Schiffsladungen.“

„Und du, hast du auch einen Job?“

„Klar,  hat mir Johnny vermittelt. Seit einer Woche bediene ich abends hinter der Theke vom „Alten Schatzschiff“.“

„Was?!?“, rief Kerstin entsetzt aus. „Das ist doch keine Arbeit für ein Mädchen! Bei den zwielichtigen Gestalten, die sich da versammeln.“

„Glaub mir, wenn du die erst mal besser kennen gelernt hast, sind sie gar nicht so übel. Harte Burschen, sicher. Manchmal fragst du dich unwillkürlich, wie viele Jahre Knast da wohl auf einmal versammelt sind. Trotzdem ist jeder einzelne von denen mehr wert als Emilio und mein Vater zusammen. Ich kann dich ja bei Gelegenheit mal mitnehmen. Dann kannst du dir selbst ein Bild davon machen. Sei ehrlich, du kannst doch auch nur das nachplappern, was du von Hörensagen weißt.“

„Na ja, schon.“ Kerstin war sichtlich verlegen. „Irgendwie finde ich dich ganz schön mutig. Ich würde mich das nie trauen.“

„Ach weißt du, dass hat sich auch alles mehr zufällig so ergeben. Angefangen hat es damit, dass ich mir zu Hause nichts mehr gefallen lassen wollte. So kam dann eins zum anderen. Hab jetzt keine Lust, die ganze Geschichte auseinander zu klamüsern.“

„Du, ich hab ziemlichen Hunger. Was habt ihr denn so zum Essen da.“

„Hm, sieht schlecht aus. Johnny ist fast den ganzen Tag unterwegs, ich bin ziemlich genügsam, esse auch meistens erst abends in der Kneipe richtig. Unser Kühlschrank ist immer ziemlich leer.“

„Ich bräuchte ohnehin noch ein paar Sachen. So überstürzt, wie wir aufgebrochen sind, ich hab ja nicht mal eine Zahnbürste dabei und auch nichts zum Anziehen. Das heißt, wenn ich dich anpumpen darf. Geld habe ich nämlich auch keins.“

Silke grinste. „Dann durchsuchen wir doch mal Emilios Jackentaschen. Der verteilt sein Geld dort nämlich immer sehr großzügig.“

Tatsächlich förderten sie mehrere zerknitterte Scheine und einige Münzen zutage.

„Das reicht für einen ganzen Karton Zahnbürsten und der Kühlschrank dürfte auch voll werden. Was deine Klamotten betrifft, da kannst du erst mal was von mir anziehen. Die Tage fahren wir noch mal hin und holen dein Zeug ab.“

„Moment! Du willst wirklich noch mal zurück?“

„Klar, was denkst du denn? Schließlich sind es deine Sachen. Und Vor Emilio oder meinem Vater brauchst du keine Angst zu haben. Wenn ich dabei bin, werden die sich hüten, dir auch nur ein Haar zu krümmen. Aber jetzt gehen wir erst mal auf Einkaufstour.“

Sicher gab es in der näheren Umgebung nicht so noble Läden, wie die, die Kerstin gewöhnt war, aber sie konnten sich doch reichlich mit Lebensmitteln und den benötigten Körperpflegeprodukten eindecken. Wieder zu Hause schoben sie eine riesige, extra dick belegte Pizza in den Ofen, die sie gemeinsam mit Genuss verspeisten.

„Wann musst du denn arbeiten?“, fragte Kerstin.

„Immer so ab 18°° Uhr, meistens bis 1°° oder 2°° nachts. Wenn viel los ist, kann es auch noch später werden.“

„Ich frage mich gerade, was ich zum Lebensunterhalt beitragen könnte. Schließlich kann ich euch nicht einfach auf der Tasche liegen.“

„Och, das ist einfach. Emilio wird die Kohle schon rausrücken; Schmerzensgeld, regelmäßigen Unterhalt. So oder so, der wird zahlen!“

 

Zur gleichen Zeit war der Vater der Geschwister nach Hause gekommen, registrierte entsetzt, in welchem Zustand sich sein Sohn befand: zwei dunkellila Veilchen, geschwollene Nase, aufgeplatzte Lippe.

„Um Himmels Willen! Wer hat dich denn so zugerichtet?“

„Das glaubst du mir ja doch nicht“, stöhnte Emilio.

„Jetzt sag schon! Wer immer es war, der kann was erleben!“

„Silke!“

„Also das glaube ich dir wirklich nicht! Deine kleine Schwester kann dich unmöglich so zusammen geschlagen haben.“

„Sie war’s aber! Ich dachte ja auch, ich spinne. Auf einmal, krach, die Tür fliegt ins Zimmer. Sie steht da, provozierend lässig, und geht im nächsten Moment auf mich los. Ich hab nicht mal kapiert, was mit mir passiert. Nur dass ich plötzlich am Boden lag und mir alles weh tat. Ich fürchte, die Rippen hat sie mir auch gebrochen, so wie die zugetreten hat. Jetzt ist sie weg, zusammen mit Kerstin. Und mein Auto hat sie auch!“

„Und du hast Däumchen gedreht und dir das alles einfach gefallen lassen?“ Die Stimme seines Vaters war jetzt nicht mehr mitfühlend sondern spöttisch. „Was bist du doch für ein    Weichei, dass du weder mit deiner Schwester noch mit deiner Frau fertig wirst. Seit wann lässt ein Mann sich denn von einem Mädchen verprügeln?“

„So würdest du nicht reden, wenn du sie selbst erlebt hättest. Die war wie eine Furie.“

„Und was gedenkst du jetzt zu unternehmen?“

„Was soll ich schon tun? Ich weiß ja nicht mal, wo die beiden sind.“

„Dir ist wirklich nicht mehr zu helfen! Und so was ist mein Sohn! Eine Lachnummer bist du!“

Nie im Leben hatte Emilio sich so gedemütigt gefühlt. Von der Schwester verprügelt, von der Ehefrau verlassen und zu allem Überfluss noch von seinem Vater dafür verspottet. Er hätte heulen mögen, wenn sein letzter Rest von Stolz das nicht verboten hätte. Und er war tatsächlich völlig ratlos, was er gegen all diese Ereignisse, die ihn da überrollt hatten, unternehmen sollte. Irgendwo tief in ihm regte sich die Erkenntnis, dass letztlich er selbst mit seinem Verhalten gegenüber Silke und Kerstin dies alles herbei geführt hatte, dass sein väterliches Vorbild, dem er bisher blind überzeugt gefolgt war, offensichtlich doch nicht so großartig war. Aber noch verbot ihm sein Stolz ebenfalls, darüber näher nachzudenken.

 

2°° Uhr nachts. Feierabend für Silke. Sie freute sich, dass Johnny noch ins „Alte Schatzschiff“ gekommen war, am Tresen sitzend darauf gewartet hatte, bis sie die letzten Gläser gespült hatte. Zusammen traten sie hinaus in die kühle Nachtluft. Silke hakte sich bei Johnny unter.

„Jetzt erzähl mir noch mal ganz genau, was du heute zu Hause angestellt hast. Von deiner Schwägerin Kerstin weiß ich ja schon einiges. Die kriegte sich kaum ein vor Bewunderung über deinen Mut und deine Kraft. Aber ich möchte es zu gern von dir selbst hören.“

Silke berichtet ausführlich, schloss mit den Worten: „Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich Kerstin mit zu dir gebracht habe. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen.“

„Natürlich ist das okay. Als ich vorhin nach Hause gekommen bin, haben wir uns ganz nett unterhalten. Nur ein Problem haben wir jetzt allerdings.“

„Und welches?“

„Na ja, ursprünglich wolltest ja du auf dem Sofa schlafen. Das ist jetzt von Kerstin belegt.“

„Ich kann immer noch bei dir im Zimmer schlafen.“

„Könntest du, sicher. Nur, seit ich dich kenne, brauche ich meine gesamte Selbstbeherrschung, um dich nicht auf der Stelle zu vernaschen. Ich hab dir nie gesagt, wie süß, wie verlockend du bist, aber du bist es. Wenn du in meinem Zimmer, in meinem Bett übernachtest, dann verliere ich meine Beherrschung garantiert.“

„Und wäre das so schlimm?“

„Sag du’s mir.“

„Hm, eigentlich nicht. Nur, ich habe in letzter Zeit so viel Neues erlebt und gelernt. Hier würde ich schon wieder absolutes Neuland betreten. Alles, was ich diesbezüglich weiß, habe ich mal gelesen oder von anderen gehört.“

„Du hast doch keine Angst vor mir?“

„Quatsch, natürlich nicht.“

Über ihrem Gespräch waren sie zu Hause angekommen, wo Kerstin tief und fest auf dem Sofa schlief.

„Tja, jetzt musst du dich entscheiden, ob du dich in die Höhle des Löwen wagst oder nicht.“

„Im Gegensatz zu dir würde der Löwe mich aber fressen.“

Nervös war Silke dennoch, als sie ihm in sein Schlafzimmer folgte. Johnny zog sie an sich, ließ seine Lippen über ihren Hals wandern.

„So geht das nicht, du bist ja total verkrampft. Bleib locker, Mädchen.“ Sanft begann er sie zu massieren, ihren Nacken, ihre Schultern. Fest und zärtlich zugleich verwöhnten seine Hände ihren Körper. Ja, das tat gut! Silke merkte, wie sie sich entspannte, sich mehr und mehr fallen ließ. „Du hast mir nie gesagt, dass du auch ein Meister der Massagetechniken bist“, schnurrte sie wie eine Katze.

„Hauptsache, es tut dir gut.“

„Oh, ja!“

Silke war an einem Punkt angekommen, wo sie nur noch bereitwillig und hingegeben war. Hatte sie bisher geglaubt, nur vom Kämpfen würde sie high werden, jetzt verhalfen ihre körpereigenen Drogen ihr zu ungeahnten Höhenflügen. Empfindungen, von denen sie nicht einmal etwas geahnt hatte, wirbelten ihr Innerstes durcheinander. Was passierte hier mit ihr? Irgendwann fand sie in die nüchterne Realität zurück; verschwitzt, zitternd, ausgepumpt.

„Wow, ich hab’s echt überlebt!“, keuchte sie.

„Hey, so wild bin ich nun auch wieder nicht!“

„Ich hab immerhin schon Sterne gesehen. Also war ich dem Himmel wohl ziemlich nahe.“

„Ist das jetzt ein Kompliment oder ein Vorwurf?“

„Du, das war unglaublich! Danach könnte ich glatt süchtig werden. Aber jetzt bin ich völlig fertig.“

„Das wundert mich nicht! Du warst großartig, fürs erste Mal. Na komm, schlaf dich jetzt erst mal aus.“

Plötzlich wirklich ernüchtert sagte sie: „Oh Mist, sieh dir das an, mein Blut hat deine Bettwäsche total versaut.“

„Hey, Mädchen, das ist doch total unwichtig und außerdem nicht deine Schuld. Ist doch ganz normal. Du bist wohl ganz schön durcheinander. Versuch jetzt zu schlafen. Morgen bist du wieder fit und dann ist immer noch Zeit, sich um die Bettwäsche zu kümmern.“

Er zog sie an sich, gab ihr einen letzten Kuss und flüsterte an ihrem Ohr: „Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal zu jemandem sage, aber ich liebe dich. Ich möchte für immer mit dir zusammen sein. Und noch oft so schöne Stunden mit dir erleben wie eben gerade.“

Mit seligem Lächeln schlief Silke ein.

 

Es war schon fast Mittag, als Silke wieder erwachte. Johnny war längst zur Arbeit gegangen. Überrascht registrierte Silke, dass im Wohnzimmer noch der Tisch zum Frühstück gedeckt war. Kerstin begrüßte sie mit einem fröhlichen: „Na, ausgeschlafen?“

Silke räkelte sich, gähnte ausgiebig. „Geht so. Aber dieser Brötchenkorb sieht sehr appetitanregend aus. Habt ihr mir auch noch nen Kaffee übrig gelassen?“

„Ich mach schnell frischen“, bot Kerstin an.

Sobald die beiden Frauen zusammen am Tisch saßen meinte Kerstin: „Du siehst ziemlich fertig aus und trotzdem ganz zufrieden. War wohl ne heiße Nacht und recht kurz dazu?“

Silke konnte nicht verhindern, dass sie rot wurde. Hatte Kerstin doch nicht so fest geschlafen? Erklärend fügte Kerstin hinzu: „Na, die Knutschflecken an deinem Hals sprechen ihre eigene Sprache.“

Unwillkürlich tastete Silke ihren Hals ab. „Ja du, so was hab ich noch nie erlebt und hätte es auch nie für möglich gehalten. Johnny hat mich dem Himmel ziemlich nahe gebracht.“

„Da hast du wohl echt das große Los gezogen. Emilio der hat mich höchsten der Hölle nahe gebracht. Dabei habe ich wirklich geglaubt, er wäre was ganz besonderes.“

„Was besonderes ist er wirklich. Vorausgesetzt du lässt auch besonders arrogant und eingebildet, besonders gemein, brutal und hinterhältig, nicht zuletzt besonders dämlich gelten.“

„Weißt du, ich hab ihn wirklich geliebt, war davon überzeugt, wir könnten eine ganz normale, glückliche Beziehung führen. Aber er hatte nichts eiligeres zu tun, als meine Träume und Hoffnungen in jedem Wortsinn zu zerschlagen. Ein Teil von mir hasst ihn dafür und hat Angst vor ihm. Ein anderer Teil von mir liebt ihn immer noch und wünscht sich, noch mal von vorn anfangen zu können. Findest du das jetzt verrückt?“

„Hm, ich weiß nicht. Ich bin allerdings dafür, dass wir uns jetzt auf den Weg machen und deine Sachen holen. Und ich schlage vor, dass du Emilio erzählst, was du mir gerade gesagt hast. Mal sehen, wie er darauf reagiert.“

Ganz selbstverständlich setzte sich Silke auch diesmal hinters Steuer, obwohl sie noch nicht im Besitz des Führerscheins war. „Du fährst trotzdem viel sicherer als ich“, hatte Kerstin zugeben müssen. Sie parkte vor ihrem Elternhaus, klaubte den Hausschlüssel, über den sie noch immer verfügte, aus der Tasche. Gleich in der Vorhalle liefen sie Emilio über den Weg. Fast überkam Kerstin Mitleid bei seinem erbarmungswürdigen Anblick. Nicht nur, dass Silkes gestrige Attacke ihre Spuren hinterlassen hatte, nein, er strahlte zum ersten Mal keine Arroganz und Überlegenheit aus, wirkte fast schon wie gebrochen.

„Wir sind hier um Kerstins Sachen zu holen. Und komm bloß nicht auf die Idee, uns daran hindern zu wollen.“

Er hob beschwichtigend die Hände. „Keine Sorge, das habe ich auch nicht vor. Nur...“, sein Blick suchte den von Kerstin, „... ich möchte wenigstens noch einmal mit dir reden. In Ruhe.“

Kerstin fuhr auf: „Was gibt es denn da noch zu reden? Ja, ich habe dich geliebt! Und ich kann mich nicht erinnern, dir durch mein Verhalten jemals Anlass gegeben zu haben, mich so mies zu behandeln. Ich habe mich immer bemüht, dir alles recht zu machen! Ich habe dich immer mit Respekt behandelt! Und du? Du hast all meine Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte zerschlagen! Und dafür hasse ich dich!“ Überraschend für alle, vielleicht am meisten für sie selbst, trat sie eine Schritt auf Emilio zu, verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Danach ließ sie ihn einfach stehen, rauschte ab in Richtung ihres Zimmers. Silke folgte ihr. Kerstin riss ihre Schubladen und Schränke auf, begann hastig, ihre Habseligkeiten in Koffern, Tüten und Kartons zu verstauen, die sie nacheinander auf der Ladefläche von Emilios Geländewagen verstauten.

Emilio stand noch immer dort, wo die Frauen ihn verlassen hatten. Er war unfähig, sich zu rühren. Kerstin Ohrfeige war harmlos ihm Vergleich zu dem, was Silke gestern angerichtet hatte. Und trotzdem schmerzte sie weit mehr. Die beiden kamen wieder die Treppe herunter.

„So, wir sind fertig. Hier, ich denke nicht, dass ich den noch brauche.“ Mit diesen Worten drückte Silke Emilio den Hausschlüssel in die Hand.

Er machte einen letzten, verzweifelten Versuch, Kerstin doch noch aufzuhalten. „Kerstin, bitte, ich weiß, du hast mit allem Recht, was du mir vorwirfst. Ich kann nicht erwarten, dass du mir verzeihst. Aber bitte, gib mir noch eine Chance.“

„Oh nein, vergiss es. Irgend wann einmal, wenn ich lange genug Zeit hatte, darüber hinweg zu kommen. Aber nicht jetzt! Ganz sicher nicht!“ Sie stieß ihn beiseite, stürmte zur Tür hinaus.

Silke baute sich vor ihrem Bruder auf. „Wenn du wirklich was für deine Frau tun willst, hier ist ihre Kontonummer. Das Konto hat sie heute morgen eröffnet. Und ich erwarte, dass du ihr darauf regelmäßig Unterhalt zahlst. Eine anständige Summe Schmerzensgeld wäre auch angemessen.“

Ohne eine Antwort von ihrem Bruder abzuwarten verließ sie ebenfalls das Haus, stieg wieder ins Auto. Kerstin saß zusammengekauert auf dem Beifahrersitz, Tränen liefen über ihr Gesicht. „Ich schwöre dir, hätte er auch nur eine Minute länger auf mich eingeredet, ich hätte mich heulend in seine Arme geworfen.“

„Besser, dass du es nicht getan hast.“

„Aber wie soll es jetzt weiter gehen? Ich hab absolut keine Ahnung, was ich jetzt tun soll.“

„Lass dir Zeit. Du musst erst mal Abstand gewinnen und dir darüber klar werden, was du selbst überhaupt willst. Du bist doch nicht allein. Ich helfe dir, so gut ich kann und Johnny auch.“

„Danke“, sagte Kerstin nur.

 

Nachdem die Frauen das Haus verlassen hatten schlenderte Emilio langsam in das Zimmer, welches er vor kurzem noch zusammen mit Kerstin bewohnt hatte. Er ließ sich auf die Bettkante sinken. Anklagend schauten die leeren, offen stehenden Schränke und Schubläden ihn an. Und genau so fühlte er sich auch, leer, ausgebrannt. Und er verstand selbst nicht mehr, wie er sich je dazu hatte hinreißen lassen können, Kerstin zu schlagen. Verdammt, ein Mann, der auch nur halbwegs bei Verstand war, würde eine Frau wie sie auf Händen tragen, sie verwöhnen. Und er? Jedes einzelne Wort, was Kerstin ihm entgegen geschleudert hatte, brannte wie Feuer. Seine wirren Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit. Als kleiner Junge hatte er noch miterlebt, wie seine Mutter von seinem Vater genau so regelmäßig verprügelt worden war. Und er war auch schon alt genug gewesen, um sich an die Überdosis Schlaftabletten zu erinnern, die seine Mutter eines Tages geschluckt hatte, als der Leidensdruck zu groß wurde und kein Ausweg in Sicht war. Genau so regelmäßig hatte seine kleine Schwester Prügel bezogen. Aus jedem noch so nichtigen Anlass. „Die Weiber brauchen dass! Sonst lernen sie nie, einen Mann zu respektieren, ihm zu gehorchen“, klang die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. Irgendwann hatte auch er angefangen, zuzuschlagen. Es war ja normal, selbstverständlich, es konnte gar nicht anders sein. Zuerst die Schwester, später die Ehefrau. Was war er doch für ein Idiot! Verdammt, spätestens, als er erwachsen wurde, hätte er selbst denken müssen, seinem Vater entgegen treten müssen, ihm sagen müssen: „Du bist im Unrecht! Es ist nicht in Ordnung, eine Frau zu schlagen! Ich werde das niemals tun!“ Was wäre so schlimm daran gewesen, diese Entscheidung selbst zu treffen? Die richtige Entscheidung! Abrupt sprang er auf. Keine Minute länger hielt er es hier aus. Er musste raus, einfach nur raus!

Ziellos streifte er durch die Straßen, versuchte Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen. Wenn er Kerstin beweisen konnte, dass er sich tatsächlich grundlegend geändert hatte, wenn er ein ganz neues Leben anfing, sich von seinem Vater lossagte, würde sie ihm dann eine Chance geben? Er selbst war ja sein Leben lang von seinem Vater abhängig gewesen, hatte immer nur von dessen Geld gelebt. Schließlich fand er sich vor seiner Bank wieder. Entschlossen kramte er den Zettel mit Kerstin Bankdaten aus der Jackentasche. Sein Konto wies ein Guthaben von etwas über 40.000,- auf. Er hob einige Scheine für sich selbst ab. Den Rest überwies er auf das Konto seiner Frau. Seine Entscheidung war gefallen. Nur einen Plan, was er als nächstes beginnen sollte, hatte er noch nicht. Er fühlte sich fast wie ein streunender Hund, wie er so durch die Straßen lief, ohne recht zu wissen, wohin. In diesem Teil der Stadt war er kaum jemals gewesen. Da war dieser Pizzaladen, der den wenig fantasievollen Namen „Pizza Inn“ trug. Und an der Eingangstür fiel Emilio ein Zettel auf.

 

Aushilfe gesucht für Auslieferungsfahrten und Küchenhilfe

 

Ja, warum eigentlich nicht? Nach kurzem Zögern betrat Emilio den Laden. Hinter dem Küchetresen war ein Mann, der die Bezeichnung Küchenbulle mit Sicherheit verdiente, mit atemberaubender Geschwindigkeit dabei, Pizzateig auf kleine, runde Backbleche zu verteilen. Der Typ war einen Kopf größer als Emilio und fast doppelt so breit. Unwillkürlich dachte Emilio, dass es sicher niemand wagen würde, sich beim Anblick dieses Kolosses über das Essen zu beschweren. Zögernd trat er auf den Mann zu. „Äh... entschuldigen Sie... ich hab das Schild am Eingang gelesen. Ich wollte fragen, ob der Job noch zu haben ist.“

„Chef!“, rief der Küchenbulle über die Schulter. „Chef, unser neuer Auslieferungsfahrer!“

Durch eine Tür am Ende der Küche kam ein Mann, der vom Körperbau her genau das Gegenteil des Bullen war, klein, hager und dunkel. Dunkle Haare, dunkle Augen, dunkle Haut. Er reichte Emilio die Hand. „Hassan“, stellte er sich vor. „Sie kommen wie gerufen. Heute Fahrer plötzlich krank, so schnell kein Ersatz. Gleich viele Kunden. Sie können fahren? Kennen sich aus in Stadt? Ja? Gut! Hier Autoschlüssel, dort draußen Wagen. Ich nehmen Bestellungen auf, Boris bereiten zu, du einpacken und liefern. Zwischendurch Geschirr spülen, Tische abräumen, alles, was anfällt. Okay?“

Die Tür ging auf, eine junge Frau betrat den Laden, zog ihre Jacke aus, band sich stattdessen eine Kücheschürze um.

„Das ist Soscha“, fuhr Hassan in seiner Erklärung fort. „Sie auch sein zuständig für Essen kochen. Übrigens, wir jetzt Abend und dunkel. Warum du immer noch tragen Sonnenbrille?“

Kurz hob Emilio seine Brille an, ließ Hassan seine Veilchen sehen.

„Oh, vielleicht wirklich besser, Brille behalten auf.“

Auch Soscha hatte mit der Arbeit begonnen. Mit einem beängstigend großen Messer hackte sie Tomaten, Gurken und Salat in mundgerechte Stücke und hantierte dabei mindestens eben so schnell wie ihr Kollege Boris. Aber nicht ihr Arbeitstempo war es, weshalb Emilio sich nur schwer beherrschen konnte, sie anzustarren sondern ihr Aussehen. Ihre dichte Haarmähne ließ sich von dem Haarnetz kaum bändigen, ihre Augen leuchteten grün wie die einer Katze, aber ihr Gesicht... Ihr Gesicht sah erschreckend aus, von tiefen Narben durchfurcht. Was mochte ihr passiert sein?

 

In den nächsten Stunden hatte Emilio allerdings wenig Zeit, über Soscha nachzudenken. Das Telefon schien ununterbrochen zu klingeln und der Strom der Kunden, die ihr Essen persönlich abholen wollten oder vor Ort aßen, schien auch kein Ende zu nehmen. Essen einpacken, ab ins Auto, losfahren, wieder zurück, die nächste Tour. Zwischendurch stapelweise Teller und Besteck spülen, Tische abräumen und abwischen, Aschenbecher ausleeren, Getränke im Kühlschrank nachfüllen. Emilio, der nie zuvor in seinem Leben gearbeitet hatte, schwirrte der Kopf. Und neben Hassan, Boris und Soscha, die so schnell und routiniert arbeiteten, kam er sich furchtbar langsam und ungeschickt vor. Würde dieser Abend jemals enden? Und würde Hassan am Ende dieses Tages höflich sagen, dass er jemanden, der so tollpatschig war, leider nicht weiter beschäftigen könnte?

Endlich Feierabend! Die letzten Gäste waren gegangen, das Telefon hörte auf zu klingeln, die Küche und der Gastraum waren aufgeräumt. Völlig überraschend hatte Boris einen Teller mit Pizza vor Emilio hingestellt. „Hier, viel Arbeit, viel Hunger. Lass es dir schmecken.“

„Danke“, stammelte Emilio nur verwirrt. Hassan hatte ihm noch ein Bier dazu genehmigt, was seine Lebensgeister langsam zurück brachte. Vollends überrascht war er, als Hassan ihn tatsächlich lobte: „Gute Arbeit, dafür, dass erster Tag. Du morgen kommen wieder? Gleiche Zeit?“

Er konnte nur nicken, fühlte fast so etwas wie Stolz. Ja, es war ein gutes Gefühl, selbst etwas zu leisten. Oh ja, er war durchaus in der Lage, selbst für sich und seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Verloren stand er nun vor der geschlossenen Tür vom „Pizza Inn“. Was er jetzt mit sich anfangen sollte, wusste er selbst nicht. Wohl oder übel machte er sich auf den Weg nach Hause, welches er nur nicht mehr als sein zu Hause empfand. Eine eigene Wohnung, ein möbliertes Zimmer würde eigentlich schon reichen, darum würde er sich als nächstes kümmern. Mit Verärgerung stellte er fest, dass sein Vater ebenfalls daheim war und auch noch keineswegs zu Bett gegangen war.

„Wo bist du gewesen? Du riechst ja wie eine Imbissbude“, kamen die missbilligenden Worte von seinem Vater.

„Ich bin erwachsen! Und ich wüssten nicht, dass ich dir Rechenschaft über mein Tun schuldig bin“, entgegnete Emilio nur entnervt, verzog sich in sein Zimmer. Er warf sich aufs Bett in dem vergeblichen Versuch, zu schlafen. Emilio sprang wieder auf. Oben auf dem Schrank verstaubte seine Reisetasche vor sich hin. Er zerrte sie herunter, packte entschlossen Kleidungsstücke, Waschzeug und einige persönliche Kleinigkeiten ein. Darunter auch das gerahmte Foto von ihm und Kerstin, das nach der Trauung aufgenommen worden war. Vielleicht, ja vielleicht... .

„Nur ein paar Stunden schlafen“, sagte er sich selbst. „Dann packe ich das mit der Wohnung an.“ Mit diesem Gedanken schlief er tatsächlich ein.

 

Zur Mittagszeit tauchte Emilio im „Pizza Inn“ auf. Abgesehen von Hassan war die Besetzung eine andere als die vom Vorabend. Hassan begrüßte ihn mit den Worten: „Ah, du haben Sehnsucht, können nicht abwarten, wieder zu arbeiten?“

„Hauptsächlich bin ich hier, weil ich eine Wohnung brauche. Ein möbliertes Zimmer würde fürs erste völlig ausreichen. Und ich dachte mir, du kennst vielleicht jemanden...“

„Ah, überhaupt kein Problem. Boris haben Wohnung oben über Laden. Ich stellen zur Verfügung. Dort noch ein Zimmer frei für Besuch. Du gehen um Haus rum, klingeln hinten an Tür und sagen Boris, ich dich schicken.“

Puh, eine angenehme Vorstellung war das nicht gerade, die Wohnung mit diesem Kleiderschrank zu teilen, aber wählerisch konnte Emilio in seiner Situation nicht sein. Hoffentlich hatte Boris schon ausgeschlafen. Langsam umrundete Emilio das Haus, klingelte an der angegebenen Tür. Kurz darauf polterte Boris die Treppe herunter. „Ach, du bist es.“

„Äh, ja, ich hab Hassan gefragt, ob er nicht wüsste, wer mir eine Wohnung oder ein Zimmer vermietet und er meinte...“

„Ah ja, dann komm mal rein.“

Er folgte Boris die Treppe herauf in ein Zimmer, dass vielleicht die Ausmaße hatte wie bisher sein Kleiderschrank. Ein schmales Bett, ein fahrbarer Kleiderständer, ein Klapptisch und ein paar Regalbretter waren die ganze Ausstattung. Boris zeigte ihm dem Rest der Wohnung, der auch nicht grad überwältigend war.

„Also, du lässt dein Zeug nicht überall rumliegen, räumst deinen Dreck selber weg, blockierst nicht stundenlang das Bad und besorgst dir dein Essen selber. Du zahlst die Hälfte von Strom und Wasser. Und wenn du telefonierst, tust du Geld ins Sparschwein. Okay?“

„Ja, ja, ist okay.“ Emilio wuchtete seine Reisetasche ins Zimmer, froh, sie endlich nicht länger schleppen zu müssen. Mit einem Seufzer begann er, sich häuslich einzurichten. Leicht war das wirklich nicht, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aber immerhin war im das Glück hold gewesen. Sicher schaffte es nicht jeder auf Anhieb, sowohl einen Job als auch eine Unterkunft zu finden.

 

Unterdessen lief auch das Leben von Silke und Kerstin in geordneten Bahnen. Nach wie vor machte Silke ihren Job im „Alten Schatzschiff“. Sie hatte sich in einer Fahrschule angemeldet, um in absehbarer Zeit endlich ganz offiziell fahren zu dürfen. Die Praxis bereitete ihr keinerlei Probleme, die Theorie büffelte sie fleißig, unterstützt von Kerstin und Johnny. Ihr Mann, der ihr jede Nacht aufs neue unvergessliche, kaum zu beschreibende Gefühle verschaffte. Auch Kerstin war hoch zufrieden. Eines Tages war sie völlig aufgeregt nach Hause gekommen, hatte Silke einen Kontoauszug unter die Nase gehalten und fast schon hysterisch geschrieen: „Sieh dir das an! Ich fass es nicht! Er hat es wirklich getan! So viel Geld! So viel Geld!“ Sie hatte tatsächlich den Kontoauszug geküsst und spontan Silke und Johnny zum Essen in ein richtig teures Restaurant eingeladen. Silke hatte noch einen weiteren Entschluss gefasst. Auch ihr Vater sollte nicht ungeschoren davon kommen. Zu sehr hatte er sie verletzt und gedemütigt. Ein Zeitungsartikel über seinen stärksten politischen Widersacher hatte sie dann auf die Idee gebracht, sich einfach mit dem Mann in Verbindung zu setzen, ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern. All die hässlich, kleinen Familiengeheimnisse. Würde der Konkurrent ihres Vaters seine Karten richtig ausspielen, dann war dessen politische Karriere beendet. Kerstin hatte erst Bedenken angemeldet. „Willst du wirklich so weit gehen?“

„Klar, warum denn nicht? Er war drauf und dran, mein Leben zu zerstören, wenn ich es nicht rechtzeitig verhindert hätte. Jetzt zahle ich es mit gleicher Münze zurück. Meinen eigenen Vater zusammen schlagen, das bringe ich irgendwie doch nicht. So ist er viel mehr gestraft. Sein öffentliches Ansehen geht ihm nämlich über alles.“

 

Auch Emilio bekam weiteren Stoff zum Nachdenken. Mit seiner Arbeit lief es zusehends besser. Längst arbeitete auch er routiniert, brauchte kaum noch Anweisungen von den anderen. Eines Abends dann, Boris war schon gegangen, auch Hassan hatte sich recht früh verabschiedet, Emilio und Soscha verrichteten die letzten Aufräumarbeiten allein. Endlich traute er sich zu fragen: „Du, Soscha, ich will dir wirklich nicht zu nahe treten oder so. Aber was ist mit dir passiert? Du weißt schon, dein Gesicht...“

„Ich hab mich schon gefragt, wann du deine Neugier nicht mehr zurück halten kannst. Eines nachts, ich war ziemlich spät allein auf dem Weg nach Hause, bin ich in einer Unterführung einer Horde komplett durchgeknallter Rowdys in die Finger gefallen. Erwarte nicht, dass ich dir in allen Einzelheiten erzähle, was die mit mir angestellt haben. Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos da gelegen habe. Irgendwann hat mein Bruder mich gefunden. Er hatte sich Sorgen um mich gemacht und nach mir gesucht. Ohne ihn wäre ich sicher gestorben. Ich brauchte Tage, um wieder zu mir zu kommen. Ich hatte entsetzliche Schmerzen und noch entsetzlichere Angst. Danach habe ich mich wochenlang nur noch zu Hause eingeschlossen. Ich konnte es nicht mal ertragen, wenn die Vorhänge offen waren. Ich wollte die Welt da draußen einfach aussperren. Ich verdanke es meinem Bruder, meinen Eltern und einem verdammt guten Spezialisten, dass ich mich nach und nach wieder an das normale Leben angenähert habe, mir selbst wieder vertraut habe und schließlich auch anderen Menschen. So, wie ich aussehe, gehört ja auch einiges dazu, sich an die Öffentlichkeit zu wagen. Aber dann habe ich es gewagt, sogar eine Selbsthilfegruppe zu gründen für Frauen, die ähnliches durchgemacht haben.“

Irgendwie war es immer wieder das Gleiche, Frauen, die wehrlos männlicher Gewalt ausgeliefert waren. Und er war genau so ein Schwein gewesen. Wahrscheinlich würde Soscha ihm eines ihres überdimensionalen Küchenmesser durch die Rippen jagen, wenn sie davon wüsste. Unwillkürlich dachte er, dass diese Selbsthilfegruppe sicher auch das Richtige für Kerstin wäre, wenn er denn überhaupt wüsste, wo sie zu finden war. Schneller als erwartet sollte er dies jedoch erfahren.

 

Dienstag, ein besonderer Tag für Silke. Am Dienstag war nämlich Ruhetag im „Alten Schatzschiff“, ein herrlicher, freier Tag. Und dieser Tag war besonders gut. Heute war ihre Fahrprüfung. Die Theorie hatte sie bereits bestanden, die Praxis bereitete ihr, wie erwartet, keine Schwierigkeiten. Stolz hielt sie den begehrten Schein in den Händen, machte auch gleich eine ausgiebige Stadtrundfahrt mit Johnny und Kerstin. Später am Abend meinte sie dann: „Das muss ausgiebig gefeiert werden! Ich geb euch Pizza aus. Da war neulich so eine Speisekarte im Briefkasten, hier, Pizza Inn. Also, wie sieht’s aus?“

Sie suchten aus, Johnny rief an und gab die Bestellung durch. Die Stimmung war schon recht übermütig, was einigen Flaschen Sekt zu verdanken war, mit denen sie auf Silkes Führerschein angestoßen hatten. Überraschend schnell klingelte es. „Ich geh aufmachen!“, rief Silke. Sie riss die Tür auf, erstarrt im nächsten Moment zur Salzsäule.

„Emilio?!“

Fast hätte ihr Bruder seinen Pizzakarton fallen lassen. „Was denn? Silke!“

Ein erstickter Laut, irgendwo zwischen quietschen und keuchen angesiedelt, ließ Silke herum fahren. Kerstin stand hinter ihr. Die drei standen sich einfach nur wie angewurzelt gegenüber. Emilio gewann als erster seine Fassung wieder. „Tja, ich bin im Dienst, kann hier nicht ewig rumstehen.“ Er drückte Silke die Pizzas in die Hand. „Lass dein Geld stecken, geht auf mich. Ich muss dann wieder.“ Er flog förmlich die Treppe herunter, konnte diese überraschende Begegnung kaum fassen. Auch Silke und Kerstin standen noch immer restlos geplättet da bis Johnny aus dem Wohnzimmer fragte: „Hey, müsst ihr die Pizza erst im Hausflur backen oder warum dauert das so lange?“

Langsam kamen die beiden ins Wohnzimmer zurück. „Also, das wirst du jetzt nicht glauben, wer eben die Pizza geliefert hat.“

„Emilio, der liefert tatsächlich Pizza aus?! Der hat in seinem Leben noch nie gearbeitet.“

Für den Rest des Abends war dieses ungewöhnliche Zusammentreffen das beherrschende Thema.

 

Am nächsten Morgen sagte Kerstin zu Silke: „Ich hab die ganze Nacht darüber nachgedacht. Ich denke, ich bin jetzt so weit, dass ich ganz sachlich mit Emilio reden kann. Gleich mittags, wenn dieses „Pizza Inn“ aufmacht, gehe ich hin.“

„Du weißt ja gar nicht, ob er dann auch da ist“, gab Silke zu bedenken.

„Aber erfahren werde ich es wann er wieder arbeitet. Trotzdem, tust du mir einen Gefallen und kommst mit?“

„Na klar, das ist doch keine Frage.“

Viel zu früh kamen sie im „Pizza Inn“ an. Zunächst war nur der Pizzabäcker der Mittagsschicht da und der wusste von nichts. Hassan, der kurz darauf eintraf, gab Kerstin dann die gewünscht Auskunft. „Bleibst du hier? Ich denke, ich gehe doch besser allein zu ihm“, meinte Kerstin. Zögernd und entschlossen zugleich ging Kerstin ums Haus, drückte die angegebene Klingel. Boris kam herunter und öffnete. „Was gibt’s? Ich wollte gerade gehen.“

„Ich will zu Emilio. Ist er da?“

Boris deutete nur ein Kopfnicken die Treppe hinauf an, verließ dann das Haus. Es kostete schon Überwindung, tatsächlich die Treppe hinauf zu gehen, die Wohnung zu betreten. Emilio lehnte am geöffneten Küchenfenster, in einer Hand eine Tasse Kaffee, in der anderen eine Zigarette. Kerstin blieb an der Tür stehen, räusperte sich. Im nächsten Moment zerschellte die Kaffeetasse auf dem Fußboden, der Kaffee spritzte in alle Richtungen. Wie in Zeitlupe kam Emilio auf sie zu, strich leicht und zögernd über ihre Wange. „Kerstin, dass du gekommen bist.“ Er zog sie in seine Armen, drückte sein Gesicht in ihr Haar. War ihm vorher je aufgefallen, wie gut ihr Haar duftetet, wie weich ihre Haut war?

„Ich hab dir so viel zu erzählen. Ich hab mein ganzes Leben umgekrempelt. Wie du siehst bin ich zu Hause ausgezogen, verdiene mein Geld jetzt selbst. Und ich hab viel nachgedacht. Soscha hat einiges dazu beigetragen.“ Er redete und redete, erzählte ihr sogar die Geschichte seiner Kollegin Soscha, schloss seinen Bericht mit den Worten: „Was meinst du, verdiene ich jetzt eine 2. Chance?“

Ihre Antwort waren ihre Hände, die sein Haar durchwühlten, ihre Lippen, die die seinen suchten. Sie küssten sich lange und bewusst. Zum ersten Mal empfand Kerstin einen Kuss ihres Mannes einfach nur als sanft und zart, nicht wie sonst immer hart und fordernd. Ganz automatisch nahm er sie auf die Arme, trug sie in sein Zimmer, in sein Bett. Und wieder war sie überrascht, wie zärtlich und einfühlsam er sein konnte. Zum ersten Mal konnte sie verstehen, wie Silke sich fühlte, wenn sie mit Johnny zusammen war. An ihn angeschmiegt fragte sie: „Aber wie soll das aussehen, diese 2. Chance, dieser Neuanfang?“

„Nun, wir suchen uns zusammen eine kleine Wohnung in der wir alles daran setzen, ab sofort liebevoll und respektvoll miteinander umzugehen. Und ich schwöre dir, sollte ich dich je wieder verletzen, dann darfst du umgehend meine Schwester anrufen, damit sie mich durch die Mangel dreht.“

„Weißt du, tief in mir habe ich nie aufgehört, dich zu lieben. Irgendwie habe ich immer gedacht, dieser Schläger, das bist nicht wirklich du. Du kannst ganz anders sein.“

„Das kann ich und das werde ich auch.“

„Hoffentlich macht sich Silke keine Sorgen. Sie sitzt nämlich unten im Restaurant.“

„Oh weh, mit meiner Schwester muss ich auch noch ins Reine kommen. Ihr habe ich auch oft ziemlich übel zugesetzt. Aber jetzt denke ich, du gehst runter und fragst Silke, ob sie auch eben rauf kommt und ich beseitige die Schweinerei in der Küche. Wenn ich nämlich nicht ordentlich bin, dann nimmt Boris mich auseinander.“

 

Während Emilio vorsichtig die Scherben der Kaffeetasse aufsammelte, den überall verspritzten Kaffee aufwischte, musste er daran denken, wie er Kerstin seinerzeit zum ersten Mal begegnet war. Es war auf einem Empfang gewesen, den sein Vater gegeben hatte. Zu diesem hatte er auch Kerstins Tante eingeladen. Kerstin war bei ihrer Tante aufgewachsen, hatte außer ihr keine Angehörigen. Und Tante Elfriede hatte ihre Nichte immer sehr verwöhnt, aber auch sehr weltfremd aufwachsen lassen. Auf diesem Empfang wurde Kerstin gewissermaßen in die Gesellschaft eingeführt. Er sah sie noch genau vor sich, wie sie da gestanden hatte in diesem grässlich altmodischen Abendkleid, das schmale Gesicht von blonden Locken umrahmt, schüchtern und unsicher. Ein Jahr war das jetzt her, 19 waren sie damals beide gewesen. Und Kerstin war so ganz anders als alle Mädchen, die Emilio sonst kannte. Die strotzten vor Selbstsicherheit, wussten genau, was sie wollten und noch genauer, was sie nicht wollten. Kerstin hingegen wurde tatsächlich rot, blickte verlegen zu Boden, als er sie ansprach. Wenig später, beim ersten gemeinsamen Tanz, war sie so unsicher, dass sie ständig über ihre eigenen Füße stolperte und über seine dazu. Tante Elfriede hatte den ganzen Abend über immer wieder verlauten lassen, was für ein hübsches Paar sie beide doch abgäben. Tja, und von diesem Moment an hatten sie sich öfter getroffen. Zwei Monate später fand dann bereits die Hochzeit statt. Ja, sie waren bestimmt ein glückliches Paar gewesen. Und ganz bestimmt hatte er nicht geplant, seine Frau zu misshandeln. Das war irgendwie einfach passiert. Auch daran konnte er sich plötzlich erinnern, wie Kerstin ihn angesehen hatte, als er das erste Mal zugeschlagen hatte. Ungläubig, nicht verstehen könnend, dass das tatsächlich passierte, dass es ihr passierte. Warum nur hatte er nicht einfach damit aufhören können, musste erst alles so kaputt machen wie diese Kaffeetasse? Nur mit einem Unterschied. Die Tasse würde in den Mülleimer wandern. Seine Ehe mit Kerstin würde er sorgfältig wieder kitten und in Zukunft sehr vorsichtig behandeln, damit sie nicht wieder zerstört würde.

Emilios Überlegungen wurden gestört durch Kerstin, die eben mit Silke zusammen zurück kam. Verlegen stand er vor seiner Schwester. Mit den Worten: „Hey, Kleine“, nahm er sie schließlich in den Arm. Von ihrem Bruder umarmt zu werden war für Silke so ungewohnt, dass sie sich zunächst steif machte, gegen die Umarmung sperrte, ehe sie sie zulassen konnte. Wieder kamen Erinnerungen in Emilio hoch, wie er so dastand und zum ersten Mal seine Schwester umarmte. Er musste etwa 8 Jahre alt gewesen sein, Silke 6 Jahre. Und wieder einmal war sie vom Vater grundlos hart verprügelt worden, kauerte schluchzend in einer Ecke in ihrem Zimmer. Damals hatte er sich einfach neben sie gesetzt, sie tröstend an sich gedrückt. Bis sein Vater ihn dabei „erwischte“. Der war vielleicht wütend geworden.

„Was hast du diese dumme Göre auch noch zu trösten!?! Sie ist doch selber schuld! Hat es nicht besser verdient! Wage es nicht noch einmal, mit ihr auch noch Mitleid zu haben! Sonst bist du es, der als nächstes Prügel bezieht!“

Von diesem Moment an hatte er es einfach ignoriert; die Schläge, die Silke regelmäßig bekam, ihre oft rotgeweinten Augen, ihre Verzweiflung. Bis er sich, einige Jahre später selbst einen Spaß daraus machte, sie zu piesacken und es als normal ansah.

Nun, die Quittung hatte sie ihm unlängst präsentiert und damit erreicht, was längst überfällig war. Sie hatte ihn gründlich wachgerüttelt, bewirkt, dass er endlich anfing, umzudenken, sich neu zu orientieren und vor allem zu erkennen, wie sehr er seine Frau liebte, dass er sie keinesfalls verlieren wollte. Aus diesen Überlegungen heraus sagte er zu Silke: „Danke für alles.“

„Wofür denn? Dafür dass ich dich neulich zusammengeschlagen hab?“

„So verrückt das auch klingen mag, ja, selbst dafür. Hättest du es nicht getan, hättest du vor allem Kerstin nicht so rigoros quasi entführt, ich mag gar nicht daran denken, was weiter aus uns geworden wäre. Du hast mir genau die richtigen Denkanstöße gegeben. Und jetzt, vielleicht habe ich Kerstin kein perfektes Leben zu bieten. Aber eins weiß ich sicher, ich werde sie nie wieder verletzen.“

„Ehrlich gesagt, zugetraut hätte ich es dir nicht, dass du fähig bist, dich zu ändern. Bist du sicher, dass du das auch durchhältst?“

„So sicher wie noch nie! Und sollte ich mich je vergessen und doch rückfällig werden, dann darfst du gern als Kerstins ganz persönliche Rachedämonin auftreten. Aber, das wird nicht passieren.“

„Ich wünsche es euch jedenfalls. Nur für mich ist das echt eine komische Situation. Sind wir jemals so normal miteinander umgegangen wie jetzt gerade?“

„Wenn, dann ist es schon viel zu lange her. Aber wenn du mir die Chance dazu gibst, dann wird es ab sofort immer so sein.“

„Von mir aus gern. Übrigens, wenn du dein Auto wieder haben willst...“

„Ach, lass nur, von mir aus kannst du meinen Wagen gern erst mal weiter fahren. Den Führerschein hast du ja inzwischen. Und ich habe festgestellt, dass ich auch ganz gut ohne Auto auskomme. Sollte ich es brauchen, weiß ich ja, wo ich dich finde.“

Sein Blick suchte Kerstin. „Was meint ihr, soll ich meine beiden Lieblingsfrauen unten im Restaurant zum Mittagessen einladen?“

„Ah, wir sind deine Lieblingsfrauen? Und wie viele hast du noch?“, fragte Kerstin schelmisch zurück.

„Keine, das weißt du doch. Ihr beide seid meine liebsten und einzigen.“

„Dann nehmen wir die Einladung gerne an.“

Zu dritt begaben sie sich in die Pizzeria. Emilio ausnahmsweise mal nicht, um zu arbeiten, sondern um sich selbst bedienen zu lassen. Sie hatten sich alle viel zu erzählen. Emilio staunte nicht wenig darüber, dass seine kleine Schwester sich ihren Job im „Alten Schatzschiff“ zutraute.

„Hast du gar keine Angst, dass dir einer der Gäste mal dumm kommt?“

„Nö, das hat auch nur einmal einer versucht. Keine Ahnung, wo der herkam. Jedenfalls kein Stammgast. Der hat schon den ganzen Abend nur dummes Zeug gelabert. Nachdem er sich genug Mut angetrunken hat, greift der mir doch plötzlich über den Tresen rüber vorn in mein Hemd. In der nächsten Sekunde hatte er das Bierglas im Gesicht, das ich grad in der Hand hatte. Und 2 Sekunden danach hat Kulle ihn sich gegriffen und vor die Tür befördert.“

„Kulle?“

„Der ist so was wie unsere Security. Sieht eigentlich ganz harmlos aus. Körperlich nicht der große Brecher, kaum größer als ich und auch kein Muskelpaket. Aber der kann fies sein, sag ich dir. Ich hab oft mit ihm zusammen trainiert. Der kennt echt schmutzige Straßenkampftricks. Kulle ist einer von denen, wenn du dich mit ihm anlegst, wachst du irgendwann auf der Intensivstation auf und hast noch nicht mal mitgekriegt, wie dir das so schnell passieren konnte.“

„Puh, wenn du neuerdings solche Leute kennst, dann muss ich ja wirklich ganz schön vorsichtig sein“, bemerkte Emilio.

„Hey, du hast dir doch vorgenommen, in Zukunft ein braver Junge zu sein. Und außerdem brauche ich doch keine Hilfe, um mit dir fertig zu werden.“

„Auch wieder wahr. Aber ich wollte noch ganz was anderes mit euch besprechen. Wenn Kerstin und ich jetzt wieder zusammen leben wollen, dann ist mein kleines Zimmer oben dafür kaum geeignet. Und wie ihr bis jetzt wohnt, ich hab es zwar nur flüchtig gesehen, aber so das Pralle ist das auch nicht. Bis jetzt ist es auch bei mir nur eine vage Idee, aber einer unserer Pizza-Stammkunden wohnt in einem schönen Doppelhaus. Die zweite Hälfte wird zur Zeit noch von irgendwelchen Verwandten von ihm bewohnt. Die ziehen jetzt aber kurzfristig weg und er sucht dann natürlich neue Mieter. Platz genug wäre da für uns alle vier.“

„Klingt nicht schlecht“, meinte Silke. „Nur muss Johnny ja auch damit einverstanden sein.“

„Klar, und noch weiß ich ja gar nicht, ob wir diese Doppelhaushälfte überhaupt kriegen. Aber nachfragen werde ich am besten heute noch.“

Nach dem Essen fragte Kerstin: „Emilio, kommst du noch mit zu uns? Zeit genug hast du doch noch, bis du wieder arbeiten musst.“

„Wenn ich darf, nur zu gern.“

Somit saß Emilio nach langer Zeit wieder in seinem eigenen Auto, wenn auch nur als Beifahrer.

 

Wieder freute sich Silke darüber, dass Johnny sie von der Arbeit abholte. Er hatte sie vorgewarnt: „Wundere dich nicht, aber dein Bruder übernachtet heute bei uns, sprich, bei Kerstin.“

„Du, am meisten wundere ich mich darüber, dass er sich wie ein ganz normaler Mensch benehmen kann. Und ich hoffe sehr, dass diese Verwandlung von Dauer ist, vor allem für Kerstin.“

„Misstraust du ihm? Auf mich wirkte er jedenfalls sehr normal.“

„Ich möchte Emilio schon gern vertrauen. Und es sieht ja auch alles danach aus, dass er sich tatsächlich um 180° gewendet hat. Nur kenne ich seine dunkle Seite eben auch nur zu genau.“

„Mir vertraust du doch auch. Dabei habe ich auch so einige dunkle Flecken in meiner Vergangenheit. Und, egal wie Emilio sich je in Zukunft verhalten sollte, du wirst auf jeden Fall damit fertig werden. Ich sowieso schon mal und auf Kerstin passen wir gemeinsam auf. Deshalb will Emilio es auch unbedingt, dass wir zusammen in diesem Doppelhaus wohnen. Nachdem er von der Arbeit gekommen ist, hat er mir nämlich davon erzählt und auch, dass er mit dem Besitzer bereits einen Besichtigungstermin fürs Wochenende ausgemacht hat.“

„Moment, er hat gesagt, dass er mit uns beiden zusammen wohnen will, damit wir Kerstin im Falle eines Falles vor ihm beschützen?“

„So direkt nicht, aber er hat es angedeutet. Einen letzten Rest von Misstrauen gegenüber sich selbst hat er wohl noch.“

„Und du, würdest du dich denn auf diese Wohngemeinschaft einlassen wollen?“

„Ach, wenn es um Wohnbedingungen geht, da bin ich anspruchslos. Wo und wie ich lebe, das ist mir im Prinzip egal. Nur, grad für uns beide, da wäre ein bisschen mehr Platz doch nicht verkehrt. Mit Kerstin kommen wir auch beide prima aus. Mit Emilio, das wird schon werden, da bin ich ganz sicher. Und wenn Emilios Stammkunde nicht einen horrenden Mietpreis verlangt, dann werden wir uns alle zusammen diesen Wohnkomfort sicher leisten können.“

Über ihrem Gespräch waren sie zu Hause angekommen, betraten leise die Wohnung. Auf dem Schlafsofa im Wohnzimmer lagen Kerstin und Emilio eng aneinander gekuschelt und schliefen friedlich.

„Sieht doch ganz positiv aus für die beiden“, flüsterte Johnny, als sie lautlos durchs Wohnzimmer in ihr Schlafzimmer schlichen. Dort angekommen fragte Silke: „Und, wie laut dürfen wir jetzt sein, ohne die beiden zu stören?“

„Wir tun bestimmt nichts, was sie nicht auch getan haben, während sie sturmfreie Bude hatten.“

 

Am nächsten Morgen erlebte Silke ihre Schwägerin ungewöhnlich strahlend und guter Laune, ebenso ihren Bruder. „Eure gemeinsame Nacht scheint euch ja gut bekommen zu sein.“

„Und das gemeinsame Frühstück, made by Emilio, ebenfalls. Sag selbst, hast du schon mal erlebt, dass Emilio früh aufsteht, Brötchen besorgt, Kaffee kocht, den Tisch deckt? Eben alles, was dazu gehört.“

„Nur die Frühstückseier, die sind mir leider total misslungen“, bedauerte Emilio.

„Der gute Wille zählt. Und ich hoffe sehr, dass ihr noch was für mich übrig gelassen habt.“

„Für mein Schwesterchen doch immer.“

Tatsächlich hatte Silke nie ein so entspanntes Frühstück zusammen mit ihrem Bruder erlebt. Zwischen zwei Bissen fragte sie: „Und wann ist jetzt der Hausbesichtigungstermin? Johnny hat mir davon erzählt.“

„Samstag um 11°° Uhr. Grundsätzlich würde Herr Hartwig sich sogar freuen, wenn jemand, den er bereits kennt, dort einzieht. Alles weitere sehen wir dann. Wenn die 2. Haushälfte genau so gut in Schuss ist wie die, die ich ja bereits kenne, dann haben wir das große Los gezogen.“

„Ich wälze seit ein paar Tagen noch einen ganz anderen Plan“, schaltete sich Kerstin ein. „Neulich war ich nach längerer Zeit wieder im Duftstübchen, meiner Lieblingsparfümerie. Die Besitzerin wunderte sich darüber, dass ich so lange nicht da war. Na ja, wir haben uns ziemlich ausführlich unterhalten. Sie sagte mir, dass sie gern ihr Geschäft erweitern würde und dafür eine Teilhaberin sucht, die allerdings Eigenkapital mit einbringen müsste. Ich meine, ihr alle habt eure Arbeit, verdient euer Geld, nur ich trage nichts dazu bei. Auf meinem Konto habe ich noch fast alles Geld, das Emilio mir seinerzeit überwiesen hat. Etwa 20 – 25.000 Investition, und ich wäre dabei. Vorausgesetzt, du bist damit einverstanden.“ Fragend sah sie Emilio an.

„Das Geld hab ich dir überwiesen und es gehört dir. Da werde ich dir keine Vorschriften machen. Wenn du dich als Geschäftsfrau versuchen willst, dann nur zu.“

„Ich dachte nur, dieses Geld, das ist ja gewissermaßen auch eine Absicherung für die Zukunft, für unsere Zukunft.“

„Dann drücken wir dir alle die Daumen, dass deine Investition gut ist und du satte Gewinne machst. Und schließlich bleibt uns ja immer noch eine hübsche Summe auf dem Konto erhalten, selbst wenn du dort Teilhaberin wirst.“

Übermütig umarmte Kerstin ihrem Mann. „Das wird wunderbar! Wir beide wieder zusammen, ein schönes Haus, wenn auch nur zur Miete und jetzt noch mein eigenes Geschäft. So was in der Art wollte ich schon immer gern machen. Parfüm, Kosmetik, das ist mein Ding! Silke, mach dich darauf gefasst, dass ich gnadenlos mit dir und diversen neuen Produkten herum experimentieren werde.“

Scherzhaft sagte Silke zu ihrem Bruder: „Unter diesen Umständen beantrage ich, dass du ihr die Investition wieder ausredest.“

„Keine Chance. Das wäre ja schon wieder Unterdrückung und das wollen wir doch nicht. Da wirst du wohl in den sauren Apfel beißen und dich der Kosmetikbranche opfern müssen. Außerdem, was ist so schlimm daran, mal ein bisschen gepflegt auszusehen?“

Silke tat empört: „Als ob ich wie die letzte Schlampe rumlaufen würde!“ Spielerisch knuffte sie Emilio worauf hin dieser ebenfalls empört tat. „Ist das zu fassen! Die Frau haut mich schon wieder!“

„Klar, das ist der Preis dafür, dass ich gepflegt aussehen soll.“

So ging das Spiel hin und her. Für Silke war es eine gänzlich neue Erfahrung, mit ihrem Bruder tatsächlich spielerisch zu kabbeln und zu balgen, ohne dass daraus gleich blutiger Ernst wurde. Von Emilio flehendlich um Hilfe gebeten mischte Kerstin auch noch mit und zu dritt rangelten sie übermütig, bis sie vor Lachen nicht mehr konnten.

„Ich glaub, so viel Spaß hatten wir noch nie zusammen“, keuchte Silke, die als erste wieder Luft bekam.

„Uff, selbst wenn du nicht Ernst machst, hat man gegen dich ja kaum ne Chance“, beschwerte sich Emilio.

„Ach, jetzt jammere nicht. Das musst du abkönnen, wenn du dich auf Frauenpower im Doppelpack einlässt. Ich hab mir sowieso vorgenommen, Kerstin in meinen Kampfsportclub mitzunehmen. Dann wird aus ihr noch ne richtig kriegerische Amazone.“

„Tu dir keinen Zwang an. Aber so ein kleines bisschen Fairness und Rücksicht auf einen unterlegenen Gegner lernt ihr da doch auch, hoffe ich.“

„Nö, wir hauen immer drauf, bis der andere sich nicht mehr rührt.“

„Zumindest von dir glaube ich das nun doch nicht.“

„Aber ich könnte dich auskitzeln, bis du um Gnade bettelst.“ Weiter ging die fröhliche Rangelei, bis irgendwann wirklich alle Beteiligten fix und fertig waren. Vor allem Kerstin hatte dieses spielerische Kräftemessen und sich zur Wehr setzen mit ihrem Mann offensichtlich mehr als gut getan zumal Emilio auch wirklich fair blieb, seine überlegene Kraft gegenüber Kerstin nicht ausnutzte. Gegen Silke, dass musste er wohl oder übel eingestehen, hatte er jedoch im Spiel wie im Ernst verdammt schlechte Karten.

 

Samstag machten sie sich dann zu viert auf den Weg, gespannt, was sie wohl in ihrem potentiellen neuen zu Hause erwartete. Von außen, das mussten Silke, Kerstin und Johnny, die das Haus bis jetzt noch nicht kannten, machte es schon mal was her. Herr Hartwig zeigte ihnen die Wohnräume. Ein großes Wohnzimmer und eine perfekt ausgestattetet Einbauküche im Erdgeschoss, dazu noch eine kleine Abstellkammer. Oben befanden sich 2 große Schlafzimmer, ein etwas kleineres und ein fast schon luxuriöses Bad. Der Dachboden war so weit ausgebaut, dass man auch dort ohne weiteres Wohnräume einrichten konnte. Eine Garage gehörte auch dazu. Herr Hartwig erklärte: „Mir geht es hauptsächlich darum, dass das Haus nicht leer steht, jetzt, wo meine Tochter mit ihrer Familie auszieht. Und darum, dass mir jemand hilft, Haus und Garten in Schuss zu halten. Dafür würde ich Ihnen auch mit der Miete entgegen kommen.“

Schnell waren sich die 4 einig, sich dieses Angebot nicht entgehen zu lassen zumal Renovierungsarbeiten praktisch nicht nötig waren. Alles befand sich in sehr gutem Zustand nur einige Kartons und auseinander gebaute Möbel standen noch herum.

„Und wann könnten wir hier einziehen?“, fragte Emilio.

„Wenn Sie wollen, dann machen wir gleich einen Vertrag ab nächsten 1. Die restlichen Sachen hier werden in den nächsten Tagen ausgeräumt, dann steht Ihnen nichts mehr im Weg.“

Nur zu gern machten sie die Sache gleich perfekt, verbrachten den Rest des Tages mit eifrigen Planungen.

„Wisst ihr, was das Beste ist?“, fragte Kerstin. Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie fort: „Wenn eine von uns mal Kinder kriegt, dann haben wir trotzdem noch genug Platz, müssten deswegen nicht schon wieder umziehen.“

Hellhörig geworden fragte Emilio: „Wieso, tut sich da etwa was bei dir?“

„Nein, so habe ich das nicht gemeint. Aber, wenn wir jetzt wieder zusammen leben, ich meinen Vertrag als Teilhaberin im Duftstübchen unter Dach und Fach habe und sich überhaupt alles so gut anlässt, dann spricht doch nichts dagegen, auch über Nachwuchs nachzudenken.“

„Puh, das wird ja eine richtige Bewährungsprobe für mich. Nicht nur einen guten Ehemann abgeben sondern beizeiten auch einen guten Vater. Aber freuen würde ich mich, ganz sicher.“

 

2 Monate später. Heute Abend war eine große Party geplant. Und sie hatten auch allen Grund zum feiern. Die Wohnung war inzwischen komplett eingerichtet, Kerstin jetzt gleichberechtigte Teilhaberin im Duftstübchen. Die geladenen Gäste waren bunt gemischt. Die langjährige Besitzerin des Duftstübchens nebst einigen Stammkunden, Emilios Kollegen aus der Pizzeria, einige Kollegen von Johnny und noch ein paar Kampfsportkumpel von Silke. Vor allem die Frauen waren aufgeregt. Hatten sie auch an alles gedacht? Würde der Abend ein Erfolg werden?

„Eigentlich verdanken wir das alles nur dir“, bemerkte Kerstin zu Silke.

„Wieso das denn?“

„Hättest du nicht eines Tages beschlossen, dich endlich zu wehren, dann wärst du deinem Johnny schon mal gar nicht begegnet. Ich wäre nie aus meiner damals so unglücklichen Ehe ausgebrochen und Emilio hätte nie eine Anlass gehabt, sich zu ändern so dass wir doch wieder glücklich zusammen kommen können. Und so, wie damals alles gelaufen ist, hätte ich mich auch nie getraut, mich beruflich selbständig zu machen.“

Silke unterbrach sie: „Lass gut sein mit hätte, könnte, wäre. Es ist nun mal so und nicht anders gekommen und genau so war es gut.“

Die Männer waren eben hinzu gekommen, hatten Silkes letzten Satz noch gehört. Jeder nahm seine Frau in den Arm. „Recht hast du, Silke, genau so, wie es gekommen ist, ist es gut. Und darum sollte es auch genau so bleiben. Jetzt und für immer!“

„Dann lasst uns mal den Abend genießen.“

„Den Abend und den Rest unseres gemeinsamen Lebens!“

 

E N D E